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Kommentar von Redaktionsbüro

Gibt es eine „europäische Form“ oder was ist spezifisch an „Ihrer“ regionalen Architektur?

Statements von Gunther Zsolt (HU), Veronika Valk(ET), Milica Topalovic (SBG) und Mladen Jadric(A)

Wir befragten vier Architekturschaffende aus Tallinn, Budapest, Sarajewo und Belgrad:

„Wir versuchen, aus unserer Vergangenheit auszubrechen“
Gunther Zsolt, Hungary

„Sogar als kleines Land haben wir unsere eigene Architektur“
Veronika Valk, Estonia

„Auf der Erfahrung eines zerfallenden sozialistischen Systems aufbauen“
Milica Topalovic, Serbia and Montenegro

„Das Privileg, Provinz sein zu dürfen“
Mladen Jadric, Austria








„Wir versuchen, aus unserer Vergangenheit auszubrechen“
Gunther Zsolt, Hungary

"Ob es einen Unterschied zwischen ungarischer und europäischer Architektur gibt, ist nicht leicht zu beantworten. Ungarn ist grundsätzlich ein konservatives Land. Man kann auch sagen, dass die ungarische Seele ein wenig verschlossener gegenüber Neuem oder Fremdem ist. Außerdem ist die ungarische Sprache sehr schwierig zu erlernen – und daher mit ein Grund, warum wenig von außen ins Land kommt. Architektur bildet grundsätzlich den demokratischen Zustand einer sozialen Gesellschaft ab. In Ungarn werden viele Bau- und Juryentscheidungen seit über vielen Jahrzehnten nach demselben Muster vergeben. Das alles verlangsamt viele wichtige Schritte im Städtebau und in der Stadtentwicklung.

Vor 1989 hatten wir ein paar große Architekturbüros, die Sozialbauten planten. In den neunziger Jahren zerfielen sie in individuelle Büros. In dieser Zeit stellte die Postmoderne in Verbindung mit ungarischen Ornamenten die beliebteste Architekturform dar. Der kosmopolitische Style der Postmoderne und die Ornamentarchitektur von Imre Makovecz waren die stärksten Vertreter. Daraus wurde die dritte – nicht internationale – Form der Ziegelarchitektur geprägt. Diese „Ziegelgeneration“ ist die stärkste Fraktion, sie bildet mittlerweile die größte Gruppe der Hochschullehrer. Die jungen Architekten, die bei ihnen gelernt haben, finden aber schwer eine eigene Position. Unser Büro („3h“) stellt da, glaube ich, eine Ausnahme dar. Wir haben in Österreich studiert und gearbeitet und sind für alle unterschiedlichen Einflüsse unseres Architekturbefindens offen.

Ein guter Indikator für die Aufgeschlossenheit eines Landes ist die Anzahl der gegenwärtigen internationalen Architekten. Als ebenso wichtig gilt die Position von innovativen Architekten. Wir hier in Ungarn haben aber viele nationale Bewerbe mit alten Jurymitgliedern und einzig Eric van Egeraat als internationalen Architekten. Eine innovative Architektur fehlt, auch die Möglichkeit des Diskurses ist nicht vorhanden. In Ungarn befindet sich der Haus- und Grundstückmarkt in den Händen von privaten Investoren – ohne geregelte Strukturen. Auch sozialen Wohnbau gibt es in unserem Land nicht. Das ist die realistische Einstufung: Wir müssen noch lange mit unserer Vergangenheit kämpfen. Aber das ist auch die einzige Möglichkeit für ein gemeinsames Europa."

Gunther Zsolt und Katalin Csillag sind seit gut 15 Jahren das anerkannteste und erfolgreichste Architekturteam aus Ungarn. Für beide stellt die Anknüpfung an die traditionelle pannonische Bauweise mit neuen Materialien einen Schwerpunkt in ihrer Arbeit dar. Gunther Zsolt beschäftigt sich zudem als Publizist seit Jahren mit den spezifischen Eigenschaften des Dreiländerecks Österreich, Ungarn und Slowakei.


„Sogar als kleines Land haben wir unsere eigene Architektur“
Veronika Valk, Estonia

"Wie lässt sich von einer eigenen estnischen Architektur sprechen?

Mein Heimatland hat gerade einmal 1,4 Millionen Einwohner und 45.000 Quadratkilometer Fläche. Wir sind eher als kleinstes Land der Welt mit den meisten Seen (1.500) bekannt. Im Gegensatz zu Israel ist Estland doppelt so groß, aber in Israel leben mehr als 5 Millionen Menschen. Daher wird bei uns auch weniger gebaut. Aber wir versuchen zum Beispiel kleine, feine Renovierungen von alten Industriekomplexen zu machen, die sehr einzigartig sind, besonders am Hafenviertel von Tallinn. Ich beschäftige mich zusammen mit meinem Büropartner Yoko Alender damit, wie ein Haus, ein Raum, eine Stadt auf deren Bewohner wirkt und sie in ihrem Alltag beeinflusst. Wir betreiben in Estland auch nicht die klassische Architekturlehre des Wohn- oder Hochbaus oder der Bautechnik. An der estnischen Kunstakademie beschäftigen sich die Studenten viel eher mit der Frage, inwiefern eine erweiterte einheimische Architektur einen experimentellen und emotionalen Effekt im Alltag haben kann. Daher nimmt unser Büro ZIZI & YOYO nicht nur an Bauausschreibungen im klassischen Sinne teil, sondern veranstaltet und organisiert Workshops, Ausstellungen und Filmprojekte zu modernem Städtebau und dessen Signalwirkung auf die Stadtbewohner. Für unsere Generation, die noch die harte Umklammerung der Sowjetunion mitbekommen hat und in der Übergangszeit von der Plan- zur Marktwirtschaft erwachsen und sozialisiert wurde, ist es ein tolles Gefühl, endlich ein gleichwertiges Mitglied der großen europäischen Familie zu sein – aber gleichzeitig auch sehr schwierig. Deswegen bildet die moderne estnische Architektur einen ganz kleinen Teil der europäischen Gesamtform. Wir arbeiten wie fast jeder junge Architekt 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche. Nur läuft in Estland alles ein wenig langsamer, wenn es um Bauentscheidungen oder Genehmigungen geht. Das lässt viel Freiraum für andere Projekte wie unsere Filmprojekte oder Installationen offen. Daher finde ich Estland bei all seiner Winzigkeit den besten Platz für mein kreatives und künstlerisches Dasein.

Veronika Valk, in Tallinn geboren, ist zwar eine der jüngsten Architektinnen ihrer Generation und dennoch bereits international erfolgreich. In ihren architektonischen Arbeiten und Filmen beschäftigt Valk sich mit dem sozialen Anspruch und der Verantwortung der modernen Architektur gegenüber deren Bewohnern. Valk sieht Estland als eine junge Nation, die sich momentan im Aufbruch nach Europa befindet.


„Auf der Erfahrung eines zerfallenden sozialistischen Systems aufbauen“
Milica Topalovic, Serbia and Montenegro

"Kann man die Zukunft auf der Erfahrung eines zerfallenden sozialistischen Systems aufbauen, einem System, das nicht mehr das „eine“, aber auch noch nicht das „andere“ ist? Sobald die sozialistische Stabilität zu erodieren begann, schienen ganze Schichten sozialer Anomalien zum Vorschein zu kommen. Die Gettoisierung (als Ergebnis des UN-Embargos) und das Aufkommen des „Turbo-Folk“ (der das Verhältnis von „Overground“ und „Underground“ umkehrte) stellten für das beschleunigte kulturelle Schaffen im Belgrad der neunziger Jahre die ergiebigsten Themen dar. Mit der nötigen Distanz könnte man darin eine produktive, aus der Krise hervorgehende Situation erkennen und Teile ihres Vermächtnisses für die Architektur und den Städtebau nutzen. Tatsächlich reagierte die Architekturszene diesbezüglich eher zögerlich und zeigte an der so genannten „Realität“ kein Interesse, wie etwa der wilde Wohnbau beweist.

Als ich 1999 in die Niederlande kam, waren Architektur und Städtebau noch immer stark vom Neoliberalismus geprägt. Es wurde vornehmlich „in der Realität gegraben“. „It’s already there (Es ist schon alles da)“, ein Slogan der „One Architecture“-Gruppe, und ähnliche einprägsame Schlagwörter wurden geschaffen, um eine positive Beziehung zu der Realität des freien Marktes herzustellen, dem man ein schnelleres Voranschreiten zuschrieb als den Visionen der Architekten.

Nachdem nun die Umbruchphase der Neunziger vorüber ist, folgen die kulturellen Symptome des Übergangs. Die Zeit ist endlich gekommen, um der Realität mit einem radikalen Pragmatismus zu begegnen, so wie dies die Architekten in Holland etwa Mitte der neunziger Jahre getan haben. Für einen serbischen Architekten handelt es sich jedoch um neues Vokabular und einen neuen Standpunkt, der noch in die Praxis umzusetzen ist. Ich denke, ein solch pragmatischer Ansatz gegenüber der Architektur in Serbien wäre eine großartige Sache. Nach wie vor fehlen in der Produktionskette der Architektur – sowohl in der Theorie als auch in der Praxis – leider viele wichtige Glieder, wie etwa ein aktives Architekturzentrum oder ein Architekturverlag.

In Belgrad beginnt man über die „Europäisierung“ der Architektur zu diskutieren. Ein derzeit laufender internationaler Wettbewerb soll etwa junge Architekten zu Entwürfen für ein Bauwerk am bekannten, an der Autobahn gelegenen „Tor zu Belgrad“ anregen. An dieser Stelle stand einst das Innenministerium, das jedoch 1990 bei einem Bombenangriff zerstört wurde. Nun bittet die Jury die jungen Architekten, dem „neuen Tor“ der Stadt, deren Blick in die Zukunft gerichtet ist, ein neues Gesicht sowie neuen Inhalt zu geben – in dem sich das Bestreben des Landes nach Integration und Zusammenarbeit mit Europa widerspiegeln soll. Das lässt eher das Konzept eines „europäischen Stils“ vermuten als das einer „europäischen Form“. Der Unterschied zwischen den beiden ist, aus serbischer Sicht betrachtet, beachtlich. Er ist Zeichen eines Klimas, in dem es keine erfolgreiche Einbindung in die europäischen Abläufe, also eine „europäische Form“ gibt, jedoch eine rege Nachahmung des „europäischen Stils“, um Dinge „europäisch“ wirken zu lassen. Diese Denkweise in der Architektur ist nicht neu und lässt sich geschichtlich zurückverfolgen. Der serbische Architekt Vladimir Kulić hat sich etwa mit einem anderen zerbombten Gebäude auseinander gesetzt – dem ehemaligen Zentralkomitee der kommunistischen Partei, das später eine Zentrale der Milošević -Herrschaft wurde. Das Gebäude, das von der NATO bombardiert und zerstört wurde, entstand in den späten fünfziger Jahren als technisch ausgereifte Nachbildung eines Mies’schen Vorhangfassadenturms. Es bestand jedoch nicht aus einem Stahlskelettgerüst, sondern aus lokal gefertigtem Beton, und auch die Vorhangfassade war nicht Teil der Struktur. Als das Gebäude von einer NATO-Rakete getroffen wurde, war es das Betongerüst, das den Bau vor dem Einsturz bewahrte. Zweifellos ist die lokale Adaptierung von entscheidender Bedeutung."

Die Stealth Group besteht aus einer Hand voll Architekten aus Belgrad (Serbien) und Rotterdam (Niederlande). Die Gemeinschaft wurde 2000 gegründet und interessiert sich für digitale Medientechnologien, Architektur und die Dynamik der Verwandlung zeitgenössischer Stadtlandschaften. Gemeinsam haben sie verschiedene Projekte initiiert und entwickelt, insbesondere „The Wild City/Die wilde Stadt“: die Genetik unkontrollierter urbaner Prozesse, die sich an einem neuen urbanen Phänomen in Belgrad orientiert – Deregulierung der Stadtstruktur und Architektur.
STEALTH Group (Ana Dzokic, Ivan Kucina, Marc Neelen, Milica Topalovic)



„Das Privileg, Provinz sein zu dürfen“
Mladen Jadric, Austria

"Die bosnische Architektur hat meiner Meinung nach das Privileg, Provinz sein zu dürfen. In keinem Land Europas oder gar auf dem Erdball herrscht solch ein Nebeneinander von unterschiedlichsten architektonischen Formen und Stilen. Bosnien-Herzegowina ist nicht viel größer als das Bundesland Niedersachsen in Deutschland. Von urbanen Zentren kann nur in der Hauptstadt Sarajewo und vielleicht in Mostar gesprochen werden. In der Geschichte des Landes hat es immer ausländische Einflüsse auf die Kultur, das Bauwesen und die Zivilisation gegeben. Sarajewo kann als ein eindrucksvolles Beispiel gelten, wenn es um die Spiegelung der unterschiedlichen Epochen der Stadtentwicklung geht. So ragt heute neben osmanischen Hamalas, Regierungsgebäuden aus der Habsburger Zeit, orthodoxen Kirchen und realsozialistischen Wohnbauten auch der eine oder andere High-Tech-Wolkenkratzer hervor. Es drängt sich die Frage nach einer vergleichbaren Situation auf. Wo sonst begegnet man noch dieser Vielfalt?

Das bosnische Volk war und ist nach wie vor sehr arm, hat aber immer viel Unterstützung erfahren. Wie uns die Geschichte zeigt, sind alle ausländischen Mächte früher oder später wieder abgezogen. Was blieb, sind die Gebäude und deren unterschiedlichste Architektur. So setzt sich das heutige Stadtbild von Sarajewo, das als stellvertretend für das ganze Land gelten kann, Stein für Stein und Haus für Haus zusammen. Die bosnische Architektur entsteht durch das gesamtheitliche Ambiente und nicht durch deren einzelne Gegenstände. Dies ist wohl das Spezifische an der bosnischen Architektur, falls es sie als eigene nationale Disziplin überhaupt je gegeben hat. Ein Name prägte vor allem die Annäherung an eine europäische Form in Bosnien: Le Corbusier – über seinen Schüler Juraj Neidhart. Le Corbusiers Architekturstil war eine strenge, klassische Anleitung zur Moderne und Zlatko Ugljen hat als sein Nachfolger den regional-europäischen Stil in Bosnien verfolgt. Diese Architektur hatte in den letzten 50 Jahren Vorbildfunktion, (davor wurde Bosnien stark von Österreich beeinflusst) und ihre Ideen wirken in gegenwärtigen Bauwerken bis heute. Diese Tatsache legt es nahe, von einer europäischen Form der Architektur mit einer stark bosnisch-kulturellen Ausrichtung zu sprechen."

Mladen Jadric hat zwei Heimaten, die er mit seiner Architektur so eng wie möglich zu verbinden versucht. Sarajewo und Wien bilden für Jadric die Zentren für sein Schaffen. In Arbeiten wie dem Projekt „Go East“ werden Nachkriegssituationen immer wieder thematisiert, ohne sie zu problematisieren. Vielmehr stellt für Jadric Emotion den Antrieb für jeden kreativen Vorgang dar, gleich ob bei seiner Lehrtätigkeit an der TU Wien oder bei der Architekturproduktion. Er versteht sein Handeln als Navigation durch ständige Veränderungen seiner Umwelt.


Artikel erschienen in: REPORT.Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in Zentral- und Osteuropa, 2005



Link: Gunther Zsolt und Katalin Csillag - Link: ZIZI&YOYO - Link: Mladen Jadric - Link: REPORT online -